Stellung des Monats (Kommentiert von Stefan Blancke)

 

Folgende Stellung ereignete sich aus meinem Vorrundenmatch auf 5 Punkte mit Firouzeh.

 

Bei einer 2-0 Führung für mich (Weiß) sah ich mich mit einem starken Doppel meiner Spielpartnerin konfrontiert:

 


Die schwarze Stellung macht einen überwältigenden Eindruck; schließlich stehe ich mit 2 Steinen auf dem 24 er Punkt hinter einer 6 er Prime gefangen und Schwarz muss „nur“ noch seinen letzten Stein mit einer 6 befreien und dann einfach nach Hause spielen. Das sollte doch innerhalb der nächsten Würfe locker möglich sein, oder?!

 

So war mein erster Impuls auch, den Cube zu passen und ich hätte mich damit in guter Gesellschaft aller umstehenden Kiebitze befunden. Dann besann ich mich aber und begann, mich mit den möglichen Gewinnplänen und den damit einhergehenden Gewinnchancen zu beschäftigen.

 

Zunächst einmal sollte klar sein, das Weiß über eine gesunde Stellung verfügt und all seine Steine aktiv am Spielgeschehen beteiligt sind. Auch möchte man dem Gegner*in nicht kampflos den 1. Punkt im Match überlassen, da er es dann in der Folge schon mit einem gedoppeltem Gammon für sich entscheiden kann! Deswegen ist der Basis Takepoint (TP ohne Gammons) für Weiß bei diesem Score relativ niedrig und liegt ca. bei 18 %.

 

Ist man sich dieser Voraussetzungen bewusst, spürt man schon, dass die Bedingungen für ein mögliches Take ziemlich gut sind und es nunmehr darum geht, herauszufinden:

 

a) Wieviel % der Spiele kann ich gewinnen?

b) Wieviel % Gammons verliere ich?

 

Gelingt Schwarz in den nächsten Würfen die Flucht seiner hinteren Steine und Weiß verbleibt mit einem reinen 24 er Punkt Spiel, so belaufen sich die weißen Gewinnchancen auf ca. 18 %, bei ca 15% Gammonverlusten (Referenzwerte für ein 24 er, bzw. 1 er Punkt Spiel). D.h., Weiß verbleibt IMMER mit mindestens 18% Restgewinnchancen, selbst wenn Schwarz die sofortige oder spätere Flucht gelingt.

 

Stellt sich nun die Frage, wie oft das Entkommen der schwarzen Steine überhaupt gelingt.

 

Macht Schwarz sofort eine 6 (ca.30%), so hüpft er raus und macht den 16 er Punkt. Dieser muss in der Folge aber noch gegen den weißen Midpoint geklärt werden, was in rund 2/ 3 aller Fälle gelingt. D. h. die schwarzen Fluchtchancen belaufen sich mit seinem 1. Wurf auf ca 30% x 2/3 = ca. 20 %.  Für den nächsten schwarzen Wurf reduzieren sich die Fluchtchancen noch einmal erheblich. Weiß hat nämlich nun auch Gelegenheit, mit jeder 5 und 6-4 den schwarzen Stein an der Kante der Prime zu attackieren (ca. 50 % der Würfe) und die 5 er Prime zu einer 6 er Prime auszubauen. Dieser Spielplan sollte dem Weißspieler bewusst sein, denn der Verzicht auf das Schlagen, weil man vielleicht zu viele Gammonverluste befürchtet, reduziert die weißen Gewinnchancen erheblich.

 

Wenn Schwarz für seinen 2. Wurf noch ca. 70% (die Flucht 6 en aus der 1.Sequenz abgezogen) verbleiben und Weiß mit ca der Hälfte seiner Würfe attackieren kann, so bekommt Schwarz in der 2. Sequenz nur in ca. 35 % der Fälle Gelegenheit zur unmittelbaren Flucht mit einer 6 (ca 11%).

 

Das macht zusammen 20%+11% = ca. 31% Fluchtchancen für Schwarz nach 2 Würfen. Für einen möglichen schwarzen Fluchtversuch im 3. Wurf können wir noch 3-4 % Chancen generieren und landen dann bei ca. 35 % Fluchtchancen nach dem 3. schwarzen Wurf. Sollte Schwarz danach die Flucht noch nicht geglückt sein, bewegt sich die Partie in völlig offenem Fahrwasser, da Schwarz dann oft schon seinen Bar Punkt und damit seine 6 er Prime aufbrechen muss.

 

Wir haben nun herausgefunden, das Schwarz in ca. 35% aller Fälle die Flucht seines letzten Steines in den nächsten 3 Würfen gelingt, wonach sich die Weißen Gewinnchancen auf ca. 18 % belaufen. Das macht 0,35 x 0,18  = ca. 6,3 %  Gewinnchancen für Weiß in dieser Variante.  (1)

 

Wie lassen sich nun die weißen Gewinnchancen in den rund 65 % Partieverläufen einschätzen, in denen Schwarz NICHT in den nächsten Würfen entkommen kann? Solange Schwarz seine 6 er Prime halten kann, bleibt Weiß Underdog, sollte aber schon 33-40 % Gewinnchancen haben, abhängig davon, ob Weiß den schwarzen Stein an der Kante der Prime attackieren kann und auf welchem Punkt Schwarz seinen Stein wieder einspielen kann. Sobald die schwarze Prime bricht (Bar Punkt muss aufgelöst werden), ist die Partie völlig offen und Weiß hat rund 50 % Siegchancen.

 

Summa Summarum lässt sich daraus eine rund 40 % Siegchance für Weiß in den rund 65 % der Fälle ableiten, wo Schwarz hinter der weißen Prime gefangen bleibt. In dieser Variante (2) besitzt Weiß also 0,4 x 0,65 = rund 26 % Siegchancen.

Addiert man diese 26 % mit den gut 6 % aus Variante 1 kommt man auf rund 32 % Gesamtsiegchancen für Weiß.

 

Einige kleine, aber feine zusätzliche Gewinnchancen für Weiß ergeben sich, wenn Schwarz in der Ausgangsstellung 2-1, 3-1, 1-1 oder 2-2 würfelt und seinen Stein auf der 16 nicht wegziehen kann. Dieser kann dann von Weiß geschlagen werden und plötzlich steht Schwarz mit 2 Steinen hinter einer 5 er Prime. Auch 4-4 und 5-5 sind schon Würfe, nach denen Schwarz seine Prime sofort brechen muss!

 

So müssen auf die rund 32 % Siegchancen für Weiß noch einige % addiert werden und wir landen bei ca, 35/36 % Gesamtgewinnchancen.

 

Bei der Frage nach den Gammonverlusten habe ich eingangs erwähnt, dass das von mir einkalkulierte Gammonrisiko bei rund 15 % liegt, ausgehend von der Referenzposition des 24er (1er) Punkt Spiels. Der Gammonpreis liegt bei ca., 0,7 und ist damit ungünstiger als im Spiel um Geld.

 

Bei dem Eingangs erwähnten Basistakepoint von ca.18 % und dem von mir angenommenen Gammonrisiko von 15 %  bedeutet dies, das Weiß einen korrigierten Takepoint von  18 % + 0,15 x 0,7 = ca. 28 %  hat.

 

In der Partie habe ich ca. 30% Siegchancen für Weiß kalkuliert, ich also damit über meinem Takepoint liege und den Würfel angenommen.

 

Die nachträgliche   XG Analyse zeigte, daß ich noch ein kleines Stück von der Wahrheit entfernt, meine Entscheidung, den Cube zu nehmen aber richtig war. Weiß gewinnt sogar rund 35 % der Partien 

 


(so, wie von mir hier auch ungefähr errechnet) bei gut 20 % Gammonverlusten , was zu einem Takepoint von  ca. 32% führt (18 % Basistakepoint  + 20 x 0,7).

  

Ein, wie ich finde, in dieser Deutlichkeit wirklich überraschendes Ergebnis. Es zeigt aber auch, dass es sich lohnt, auch in scheinbar hoffnungslosen Stellungen bei Cubeentscheidungen nicht den Kopf zu verlieren und vorschnell zu passen. Insbesondere Prime gegen Prime Stellungen wie diese bieten auch für die schwächere Seite erhebliches Gewinnpotenzial und sind damit oft ein klares Take! 

 

Die Partie und das Match übrigens konnte ich nach meinem „mutigen“ Take gewinnen:

 

Firouzeh warf in der Ausgangsstellung zwar sofort eine 6, musste beim Klären des 16 er Punktes aber einen Schuss lassen, welchen ich von meinem Midpoint traf. In der Folge konnte sie nicht an der Kante meiner Prime einsetzen und musste im weiteren Verlauf ihren Bar - und 6 er Punkt aufbrechen. Es kam dann zu einem Redoppel auf 4, welches sie korrekterweise annahm, Partie und Match aber in der Folge verlor. Firouzeh hat in diesem Match ebenso die richtigen (Cube -) Entscheidungen getroffen, am Ende hat dann aber der glücklichere Spieler gewonnen. So ist Backgammon halt!